Deutschland und Frankreich. Vortrag anläßlich der Institutseröffnung

1998 
Seit tausend Jahren bestimmt das Thema Deutschland-Frankreich das Schicksal Europas und hat es zumeist in einer hochst tragischen Weise bestimmt. Systola und Diastola seines Herzschlages regierten Anziehung und Abstosung, Umarmung und Wurgegriff dieser beiden Volker — die sich nie trennen konnen, die sich immer Aug in Aug gegenuberstehen, sowohl in dem grosen Sinn des Sich-im-Blick-aneinander-Festsaugens, wie auch — in den schlimmen Zeiten — in dem bosen und durftigen Sinne, der in der Parabel des Evangeliums vom Splitter und Balken im Auge des Bruders zum Ausdruck kommt. Das gilt im geistigen Bereich so gut wie im Bereich des Politischen. Wie ware uberhaupt bei Volkern, die so schicksalsbeschwert sind, eine Trennung zwischen dem Geistigen und dem Politischen zu machen? Ist denn das eine nicht das andere im jeweiligen Zustande seines „Anders-Seins“? Seltsam: oft war das befruchtende geistige Uberstromen dann am starksten, wenn der eine dem anderen politisch als Widersacher schlechthin galt — und oft ist er es auch gewesen. Ich brauche nicht Namen wie Goethe, Taine und Renan zu nennen, ich brauche hier nicht Friedrich und Voltaire zu zitieren und nicht von Rousseau und der deutschen Romantik zu sprechen. Es ist so, als ob in solchen Zeiten die eine Schale der Waage jeweils mit der anderen Schale in der Verbindung kommunizierender Gefase gestanden hatte, um ein Gleichgewicht zu erhalten, das die Bewegung der Zeit zu bedrohen schien. Dieses sich gegenseitige Erfassen, dieses gegenseitig-voneinander-Besessensein geht oft bis in das Elementare des Bewustseins von der Landschaft „druben“ und von den Lebensstromen, die sie ausatmet und ausstrahlt.
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